Der Vertrag zwischen Stadt und Land muss überarbeitet werden

MEINUNG von René Longet, erschienen in Le Temps vom 9. Februar 2024.
Mit der freundlichen Genehmigung des Autors veröffentlichen wir ihn auf dieser Website auch auf Deutsch.
Innerhalb weniger Tage Strassenblockaden haben die europäischen Landwirte die Rücknahme von Umweltmassnahmen erreicht, die sie an den Pranger gestellt hatten und die die Regierungen schnell (und bereitwillig?) geopfert haben. Dies ist jedoch ein Pyrrhussieg, denn durch die Beerdigung der Massnahmen zur Einschränkung des Pestizideinsatzes wird die funktionelle Biodiversität – Bestäuber und Bodenmikroorganismen -, von der der Fortbestand der landwirtschaftlichen Produktion abhängt, weiter geschwächt.
«Die Agrarpolitik sollte dazu dienen, die negativen Externalitäten der Landwirtschaft zu begrenzen und die positiven zu ermöglichen.»
Politisch ist die Botschaft destruktiv und man wartet nur noch auf den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der extremen Rechten bei den Europawahlen, um das Ende des Grünen Pakts der EU einzuläuten. Doch je mehr sich die ökologischen Schulden unserer Produktions- und Konsummuster anhäufen, desto schwieriger wird es für künftige Generationen, einschliesslich der Bauern, sein, diese Schulden zu begleichen. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, wie wir allen Akteuren der Wertschöpfungskette einen fairen Preis für qualitativ hochwertige Lebensmittel garantieren können. Das bedeutet, die Gewinnsmargen der Zwischenhändler, das mangelnde Interesse vieler Verbraucher an ihren Lebensmitteln und … die Ausrichtung der staatlichen Unterstützung zu hinterfragen. Denn Geld ist vorhanden.
Interessensbündnis zwischen Bauern und Wirtschaft
In der Schweiz hat der Schweizerische Bauernverband (SBV) im Bündnis mit den Wirtschaftslobbies, die die Stimmen der Kampagnen brauchen, um Abstimmungen zu gewinnen (insbesondere wenn das doppelte Mehr von Volk und Kantonen erforderlich ist), eine wichtige Ausnahme vom vorherrschenden Liberalismus gesichert. Die Kosten der bäuerlichen Ausnahmeregelung: 3,6 Milliarden Subventionen pro Jahr, zuzüglich höherer Preise aufgrund des Zollschutzes – alles bezahlt vom Steuerzahler-Konsumenten. Es ist nicht zumutbar, dass die ökologischen und sozialen Kosten landwirtschaftlicher Entscheidungen auf die Bevölkerung abgewälzt werden.
Ist es normal, dass in 35 Jahren die Hälfte der Betriebe von der andern Hälfte geschluckt wurde? Und wie viele werden es morgen sein? Ist es glaubwürdig zu behaupten, dass die Ernährungsautonomie des Landes (derzeit 50 %) durch den ständigen Import von Phosphatdünger oder Sojaschrot für unser Vieh verbessert werden soll? Ist es akzeptabel, sich gegen Einschränkungen bei Pflanzenschutzmitteln zu wehren, wenn die rund 8000 Bio-Betriebe beweisen, dass es auch ohne geht?
Unterstützung öffentlicher Leistungen, die der Markt nicht entschädigt
Es ist an der Zeit, die Legitimität die Agrarpolitik zu hinterfragen. Wie viele menschliche Aktivitäten erzeugt auch die Landwirtschaft negative Externalitäten (negative Auswirkungen, die nicht von ihr getragen werden). Sie bringt aber auch positive Externalitäten (positive Auswirkungen, deren Kosten nicht von den Märkten gedeckt werden) mit sich. Erstere zu begrenzen und letztere zu ermöglichen, ist der eigentliche Grund für die Agrarpolitik, deren Ziele zwar politisch breit diskutiert und in den Artikeln 104 und 104A der Bundesverfassung niedergelegt sind, aber ein wenig in Vergessenheit geraten.
Laut diesen Artikeln ist das Hauptziel der Landwirtschaft, die Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Dabei müssen die natürlichen Ressourcen erhalten und die Kulturlandschaft gepflegt werden. Die dezentrale Besiedlung des Landes soll unterstützt und besonders naturnahe, umwelt- und tierfreundliche Bewirtschaftungsformen sollen gefördert werden.
Die Direktzahlungen sind an ökologische Auflagen gebunden ,um die Umwelt vor Beeinträchtigungen durch den übermässigen Einsatz von Dünger, Chemikalien und anderen Hilfsstoffen zu schützen. Der Bund ist gefordert, die Voraussetzungen für eine an standortgerechte und ressourceneffiziente Landwirtschaft zu schaffen. Ausserdem sollen die grenzüberschreitenden Handelsbeziehungen zur nachhaltigen Entwicklung der Land- und Ernährungswirtschaft beitragen.
Das ist also eine schöne Liste positiver externer Effekte, die das öffentliche Interesse zum Ausdruck bringen. Das sind alles „öffentliche Aufträge“, die Produzenten und Konsumenten, Stadt und Land gemeinsam auf konsolidierte, lohnende und sinnstiftende Ziele ausrichten können.