„Ohne Utopie kann man nicht Leben“ – Interview mit Pierre-André Tombez
INHALTSVERZEICHNIS
Interview mit dem altgedienten Bauernaktivisten, und Ex-Präsident Pierre-André Tombez (67), der „Bauerngewerkschaft“ Uniterre, über gerechte Landwirtschaftspolitik, die Notwendigkeit von Utopien und der Unmöglichkeit, einen politischen Kampf zu verlieren.
Interview: Udo Theiss
Herr Tombez, wann und warum sind Sie Uniterre beigetreten?
Das ist praktisch Familientradition. Schon mein Vater war Aktivist bei Uniterre. Mitglied bin ich seit den 80er Jahren, war 17 Jahre Vorstandsmitglied und 10 Jahre Präsident von Uniterre. Ausserdem war ich für unsere internationale Mutterorganisation Via Campesina 5 Jahre Europadelegierter in Brüssel. Aber ich möchte betonen, dass ich hier für mich rede. Es hat bei Uniterre einen erfolgreichen Generationenwechsel gegeben. Und die Jungen machen hervorragende Arbeit, die ich voll und ganz unterstütze. Aber ich kann nur meine eigenen Ansichten vertreten.
Trotzdem. Sie haben die wichtigsten Kämpfe der Uniterre mitgekämpft oder geleitet. Redet man von Uniterre fällt stets der Name Tombez.
Möglich.
Die Sozialistischen sahen sich selbst immer auch als Vertretung von Arbeitern UND Bauern. Doch die Bauernschaft blieb auf dem linken Ohr meist taub. Ist Uniterre, die ja allgemein als Bauerngewerkschaft bezeichnet wird, so etwas wie die Sichel zum Hammer auf der roten Fahne?
Aus meiner Sicht hat das, was Uniterre zu meiner Zeit machte, mit links oder rechts nichts zu tun. Wir haben Marktpolitik gemacht. Es ging um Preise, Produktionsbedingungen, Löhne und die Unabhängigkeit der Bauernbetriebe. Aus unserer Sicht sind Bauernhöfe keine puren Produzenten, sondern auch Handelsbetriebe. Das hat der Bauernverband nie begriffen. Freilich stand und steht Uniterre wie immer für die kleinen Betriebe ein, die eine bäuerliche, ökologische, gerechte und existenzdeckende Landwirtschaftspolitik brauchen.
Trotzdem hat sich Uniterre immer solidarisch mit den Forderungen der Gewerkschaften erklärt und ist selbst wie eine Gewerkschaft organisiert und wird von den Mitgliedern auch so wahrgenommen.
Die Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sind insofern auch Interessen der Landwirtschaft. Schliesslich brauchen die Erwerbstätigen gerechte Löhne, damit sie gerechte Preise für unsere Produkte zahlen können. Wie Sie wissen, engagiere ich mich stark für die Ernährungssouveränität. Und die Idee dahinter ist, dass die Nahrungsmittel zu gerechten Löhnen und Preisen, sowie ökologisch von einheimischen bäuerlichen Betrieben produziert werden. Wenn osteuropäische Landarbeiter oder Flüchtlinge zu Hungerlöhnen als Erntehelfer in der Schweiz schuften, senkt das zwar die Produktionskosten. Aber diese Arbeiter können sich keine Schweizer Nahrungsmittel leisten und müssen sich billige Importprodukte kaufen und zahlen auch nicht in die Sozialwerke ein. Das ist doch Unsinn.
Vom Bauernverband hielten sie nie besonders viel. Warum?
Die schweizer Agrarpolitik und das System der Direktzahlungen begünstigen die Massenproduktion in immer grösseren, industriell produzierenden Betrieben. Was in letzter Konsequenz heisst, dass die kleinen bäuerlichen Betriebe, die ökologisch und sozial und regional Lebensmittel für die Schweiz produzieren, von multinationalen Konzernen verdrängt werden. Wenn die Schweizer Landwirtschaft Getreide mit importiertem Dünger und Pestiziden produziert oder Schweizer Kühe mit importierten Futtermitteln mästet, ist das am Ende doch kein Schweizer Brot, Fleisch oder Käse mehr, sondern die Produkte von multinationalen Konzernen. Die Grossverteiler Coop und Migros bewirtschaften zwar ökologische Nischen, aber auch sie fördern mit ihren Vorgaben an die Produzenten diese Entwicklung. Was von der Schweizer Kundschaft übrigens keineswegs gutgeheissen wird.
Warum soll die Schweizer Kundschaft anders sein als irgendeine Kundschaft in Europa?
Warum weiss ich auch nicht. Aber es ist so, dass in der Schweiz die Kundschaft erwartet, dass sie im Eingangsbereich Frischprodukte von guter Qualität vorfindet und dafür auch mehr ausgibt. Was Migros und Coop nicht begreifen. Lidl zum Beispiel hat das durchaus realisiert. Will man im gleichen Laden zum Beispiel Kleider, Küchengeräte etc. anbieten, muss man dieses Kundenbedürfnis befriedigen. Das ist etwas aufwändig. Ein Manager von Carrefour hat mir erklärt, dass der multinationale Grosskonzern sich das mit seinen vergleichsweise geringen Margen nicht leisten kann und deshalb nicht an der Schweiz interessiert ist. Carrefour macht seine Gewinne nicht über hohe Margen, sondern über die Masse. Und dafür ist der Schweizer Markt zu kompliziert und zu klein.
In der Deutschschweiz ist die Uniterre nur wenig bekannt. Überhaupt konnte die Organisation erst mit dem Milchstreik 2008 eine Vertretung in der Deutschschweiz etablieren.
Die Deutschschweizer Bäuerinnen und Bauern lassen sich von der SVP und Bauernverband ihre Interessen vertreten. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Tatsächlich sind Bauernverband zusammen mit SVP eine mächtige Lobby im Vergleich zur kleinen Uniterre. Aber sie lobbyieren für die Massenproduktion. Die Betriebe in der Deutschweiz sind oft grösser, aber auf Druck der Abnehmer oft zu reinen Produzenten degradiert. Die Migros sagt, liefert ihr den Weizen, wir organisieren den Markt. Kleinere Betriebe können in der Westschweiz nur überleben, wenn die Bäuerinnen und Bauern einen Zweitjob haben, was auch in der Deutschschweiz zunehmend der Fall ist. Dabei sollten Bauern auch Verkäufer sein und mit ihren Produkten wirklichen Handel treiben. Nicht nur auf kleinen Hofläden. Allerdings, wenn sie sagen, Uniterre sei nur eine kleine Organisation, irren sie sich gewaltig. Wir sind die Schweizer Vertretung von Via Campesina. Eine sehr einflussreiche, globale Organisation, die sich für die Interessen der kleinen, bäuerlichen Betriebe und Landarbeitenden einsetzt. Der Bauernverband hat eine Heidenangst vor Uniterre und übernimmt immer wieder Positionen von uns, die er anfänglich als Spinnereien abtat.
Warum haben es progressivere, fortschrittliche Kräfte bei den Bäuerinnen und Bauern auf der deutschsprachigen Seite des Röstigrabens so schwer?
Deutschweizer neigen generell eher zum Gehorsam. In der Welschschweiz neigen die Bäuerinnen und Bauern eher dazu, die angeblich gegebenen Marktgesetze zu hinterfragen. Uniterre hat durch seine Mitgliedschaft zudem Zugang zu Informationen aus aller Welt, die beweisen, dass es auch anders geht.
Die Utopien der traditionellen Linken sind, soweit man das beurteilen kann, im Wesentlichen gescheitert. Was können kleine kämpferische Organisationen wie die Uniterre im Zeitalter des Neoliberalismus und der multinationalen Agrokonzerne überhaupt noch bewirken?
Erstmal: Ohne Utopie kann man nicht leben. Ich bin kein Freund von Elon Musk. Aber er ist ein schönes Beispiel, dass, was heute noch als Spinnerei gilt, schon morgen den Markt beherrschen kann. Ich finde überhaupt nicht, dass wir auf ganzer Linie gescheitert sind. Beim Milchstreik 2008 haben alle gesagt, wir spinnen. Wir haben drei Tage nicht geliefert und schon hatten wir gewonnen. Auch scheinbare Misserfolge führen oft zu Verbesserungen. So gesehen kann man nur dann wirklich verlieren, wenn man resigniert. Jeder Kampf hinterlässt Spuren und Zeiten ändern sich. In der Deutschschweiz hält man Menschen mit Utopien tendenziell für dumm. Das Gegenteil ist der Fall. Auch das Projekt der Fairmilch mit einem Milchpreis von einem Franken (ca. ein Drittel mehr als der übliche Milchpreis in der Schweiz. Anm. der Redaktion) wurde als völliger Blödsinn abgetan. Aber mit Manor als Abnehmer funktioniert das ausgezeichnet. Wenn in einem grossen Schiff 20 Leute auf einer Seite die Hand ins Wasser halten, wird das Schiff irgendwann, ohne dass man es vielleicht gemerkt hat, irgendwann deutlich den Kurs geändert haben.
Bei den vorletzten nationalen Wahlen erlebten linke und ökologische Kräfte einen massiven Aufschwung. Die Ergebnisse der letzten Wahlen hingegen sind aus ökologischer und sozialer Sicht hingegen ein bitterer Rückschlag. Was hat dieses Wahlergebnis für Uniterre und verwandte Organisationen, wenn überhaupt, für Auswirkungen?
Das die Grünen verloren haben, stimmt höchstens in Wählerprozenten. Tatsächlich haben sie gewonnen. Die Verluste haben dafür gesorgt, dass wieder in allen Parteien und der Öffentlichkeit über grüne Anliegen geredet wird, wie nie zuvor.
Was waren die wichtigsten Auseinandersetzungen der Uniterre seit ihrer Gründung im Jahr 1951?
Was soll ich da antworten? Wichtig sind unsere Grundanliegen, für die wir damals wie heute gekämpft haben (Siehe Kasten „Uniterre“). Uniterre hat unzählige, scheinbar radikale Streiks, Proteste und Kampagnen geführt. Natürlich haben wir mit Aktionen wie dem Auskippen von Milch oder der Präsentation eines nutzlos getöteten Kalbes auf dem Bundesplatz bewusst provoziert, um Aufmerksamkeit zu garantieren. Aber Uniterre stellt nicht einfach Forderungen und findet, jetzt schaut mal, wie ihr das hinkriegt. Wir liefern mit jedem politischen Kampf auch eine gangbare Lösung für das Problem.
Uniterre ist eine unabhängige Bäuerinnen- und Bauernorganisation, die sich seit ihrer Gründung im Jahr 1951 für kostendeckende Preise und transparente Wertschöpfungsketten einsetzt. Faire Preise, langfristige Abnahmeverträge mit festgelegten Mengen, Tierschutz und Umweltschutz stehen im Zentrum der politischen Arbeit. Gemeinsam mit der internationalen Bauernbewegung La Via Campesina setzt sich Uniterre für die Ernährungssouveränität und Agrarökologie ein, die auch von der UNO-Welternährungsorganisation FAO empfohlen wird. Ein weiteres Kernthema ist die Umsetzung der UN-Erklärung der Rechte der Bäuerinnen und Bauern von 2018, die Bäuerinnen und Bauern vor Privatisierung, der Liberalisierung der Agrarmärkte, der Börsenspekulation mit Nahrungsmitteln und Landraub schützen soll. Ausserdem wollen Uniterre und Via Campesina den Ausschluss landwirtschaftlicher Produktion von Freihandelsverträgen.Die Versorgung der Bevölkerung mit heimischen Lebensmitteln hat Priorität.
Links
SMP Bericht Milchpreismonitoring Okt. 23 : https://www.agrarinfo.ch/wp-content/uploads/sites/2/2024/01/bericht-smp-milchpreis-monitoring-auswertung-2023-oktober-2023-12-21-de.pdf