Die Bevölkerung übernimmt wieder die Macht über ihre Ernährung
Ein demokratisches, nachhaltiges und solidarisches Ernährungssystem ist möglich. In Genf haben sich kürzlich zwei Bürger*innenkomitees für Ernährung gebildet, um lokale Lösungsansätze zu entwerfen und zu erproben. Ihre erste Brainstorming-Sitzung wurde durch den inspirierenden Erfahrungsbericht von Mitgliedern des Bürger*innenkomitees in Montpellier geprägt, das eine gemeinsame Lebensmittelkasse gegründet hat.
Das Ernährungssystem ändern
Die Feststellung ist überall die gleiche: Unser Ernährungssystem ist krank. Auf der einen Seite können Menschen in prekären Situationen nicht über ihre Ernährung entscheiden, weil ihnen die Mittel fehlen, aber auch weil die Lebensmittelhilfe ihnen nur die Überschüsse der Grossverteiler anbietet (verarbeitete Produkte, Junkfood, selten BIO usw.). Auf der anderen Seite haben Kleinbauern und -bäuerinnen sowie handwerkliche Verarbeiter und Verarbeiterinnen Schwierigkeiten, von ihrer Arbeit zu leben, weil Dumpingpreise und von den grossen Handelsketten festgesetzte Preise oft nicht einmal die Produktionskosten decken.
Nahrungsmittel sind jedoch lebensnotwendig. Wie können wir aus diesem Paradoxon herauskommen?
Bürgerinnen und Bürger haben sich in lokalen Komitees zusammengeschlossen, um die Macht über ihre Ernährung zurückzugewinnen.
Bürger*innenkomitee für Ernährung
Im Jahr 2021 startet in Montpellier ein Netzwerk von Organisationen das Projekt, ein demokratisches, nachhaltiges und solidarisches Ernährungssystem zu entwickeln, das von der Stadtverwaltung und privaten Stiftungen unterstützt wird. Zum Präsentations- und Rekrutierungsabend kamen mehr als doppelt so viele Menschen wie erwartet. Im Oktober 2022 startete die erste Sitzung des Bürger*innenkomitees für Ernährung mit 47 Mitgliedern.
Die gewählte Arbeitsweise ist einfach: Alle Entscheidungen werden durch Konsens oder Zustimmung getroffen, und in letzter Instanz durch Abstimmung (was noch nie vorgekommen ist). Alles basiert auf Vertrauen, Fürsorge und dem Respekt vor dem Wort jedes Einzelnen.
Der Vorstand entscheidet über alles: die Organisation, die Kasse, die Beiträge, die Zugangskriterien, die Auswahl der Verkaufsstellen und der Produzentinnen und Produzenten etc. Er zieht Expert-*innen zu Rate, um Schulungen, Zahlen oder Entscheidungshilfen zu erhalten, aber er bleibt bei allen Entscheidungen souverän. Die (öffentlichen und privaten) Startgeldgeber haben kein Recht, sich in die Entscheidungen des Bürgerkomitees einzumischen.
Das Bürger*innenkomitee in Montpellier arbeitete sehr effizient ohne jegliche rechtliche Struktur, Statuten oder Referenzdokumente. Mit einem halben Tag alle drei Wochen schaffte das Komitee es in weniger als drei Monaten, eine gemeinsame Lebensmittelkasse einzurichten, deren Ergebnisse alle Erwartungen übertrafen.
Gemeinsame Lebensmittelkasse – was ist das?
Die Idee ist einfach: Es handelt sich um ein gemeinsames Budget, in das jede/r nach seinen/ihren Möglichkeiten beiträgt und nach seinen/ihren Bedürfnissen erhält.
• In Montpellier beträgt der Mitgliedsbeitrag mindestens 1 €/Monat (für ein monatliches Lebensmittelbudget von 90 €) bis zu 150 € und darüber hinaus für altruistische Beiträge. Eine Tabelle hilft den Mitgliedern, ihren Beitrag proportional zu ihrem Einkommen, ihrem Nahrungsmittelbudget und dem „Rest zum Leben“ festzulegen. Das System beruht auf absolutem Vertrauen, es gibt keine Kontrolle der Beiträge.
• Im Gegenzug erhalten die Mitglieder der Kasse monatlich den Gegenwert von 100 € in einer digitalen lokalen Währung namens MonA. Dieses Geld kann bei zugelassenen Produzent*nnen und Verkaufsstellen ausgegeben werden.
• Die „Konventionierung“ basiert auf einer Reihe von Kriterien, die vom Komitee festgelegt werden: Nähe und Erreichbarkeit, Qualität, Umwelt und Gesundheit, Beziehungen zu den Produzent*nnen, Sozialpolitik des Unternehmens etc. Dieser Prozess ist zeitaufwendig, aber er ermöglicht es, sehr enge Beziehungen zu den Partner*innen aufzubauen.
„Jede/r trägt nach ihren/seinen Möglichkeiten bei und erhält nach ihren/seinen Bedürfnissen“
Ein inspirierender Erfolg
Die Kasse wurde nicht nur vom Bürgerkomitee in weniger als drei Monaten eingerichtet, sondern ihre Ergebnisse übertrafen auch alle Erwartungen. Mehr als 1.000 Personen beantragten die Mitgliedschaft in der Lebensmittelkasse. Da das Budget des Pilotprojekts nur die Aufnahme von 400 erlaubte, musste das Komitee eine Auswahl treffen. Die Mitglieder wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, aber so gewichtet, dass die Gruppe für die Metropole repräsentativ war: Verteilung nach Stadtteil, Alter und natürlich Einkommen. Da Menschen in prekären Situationen immer von Entscheidungen ausgeschlossen sind, wurde ihr Anteil auf 50 % der Mitglieder der Kasse festgelegt.
Bei den ersten Auszahlungen im Februar 2023 gab es nur vier konventionierte Orte. Heute sind es 48, darunter 35 Produzent*nnen und 13 Geschäfte. Die durchschnittlichen Mitgliedsbeiträge betragen 60€, was bedeutet, dass sie 60% des Gesamtbudgets decken – mehr als erwartet – und der Rest von den Startgeldern (20% öffentlich und 20% privat) getragen wird. Dieses unerwartete Ergebnis ermöglichte es, die Versuchsphase auf 18 Monate statt der ursprünglich geplanten 12 Monate zu verlängern.
Die Rückmeldungen der „Experimentator*innen“ (das Wort „Begünstigte“ wurde verbannt) sind natürlich sehr enthusiastisch. Sie drücken ihre Dankbarkeit nicht nur für die Erhöhung ihres Lebensmittelbudgets aus, sondern auch und vor allem dafür, dass sie Zugang zu gesünderen Lebensmitteln und die Eintscheidungsmacht darüber haben. Auch die Workshops, Veranstaltungen und Konferenzen waren ein grosser Erfolg.
Diese erste Pilotphase endet im Juni 2024 und das Komitee möchte sie nicht nur verlängern, sondern auch ausweiten (mehr Mitglieder, Summe proportional zur Anzahl der Personen pro Haushalt usw.). Die Suche nach Finanzmitteln ist im Gange und wird wahrscheinlich die Annahme einer rechtlichen Struktur (z. B. Verein) mit sich bringen.
Sozialversicherung für Lebensmittel
Die Bürger*innenkomitees breiten sich überall aus und passen die Arbeitsmethoden und Kriterien den örtlichen Bedingungen an. Die zehn aktiven Komitees in Frankreich haben sich zu einem Kollektiv zusammengeschlossen, damit diese wunderbaren lokalen Initiativen durch eine Sozialversicherung für Lebensmittel zu einem Recht für alle werden. „Nach seinen Mitteln beitragen, nach seinen Bedürfnissen empfangen“ – dieses Prinzip der französischen Sozialversicherung sollte auch für Lebensmittel gelten.
Das Projekt wird Jahrzehnte dauern, und die einzige Chance, die Politik zu bewegen, ist der Druck von unten, der Druck der Bürgerinnen und Bürger.
Inspiration für Genfer Bürger*innenkomitees
Genf ist der erste Kanton, der das „Recht auf Nahrung“ in seiner Verfassung verankert hat. Zur Umsetzung dieses Rechts ist die Idee einer gemeinsamen Lebensmittelkasse ein interessanter Ansatz. Mehrere Organisationen der Zivilgesellschaft riefen daher dazu auf, die ersten beiden Bürger*innenkomitees für Ernährung zu gründen: in Les Vergers in Meyrin und im Genfer Stadtteil Pâquis. Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger folgten dem Aufruf und die beiden Komitees nahmen am 9. März 2024 ihre Arbeit auf.
Die erste Sitzung des Bürger*innenkomitees für Ernährung in Les Pâquis bestand aus einem inspirierenden Gespräch mit Mikaele, Mitglied des Bürger*innenkomitees in Montpellier, einem Workshop zur Bestandsaufnahme und Kartografie der „Ernährungslandschaft“ des Viertels, einer Gruppenarbeit rund um die „erträumte Ernährungslandschaft“ und einem köstlichen gemeinsamen Essen.
Die sanfte Mischung aus erfolgreichen konkreten Erfahrungen und utopischen Projektionen scheint gut aufgenommen worden zu sein. Die Bürgerinnen und Bürger des Pâquis-Komitees gingen begeistert und motiviert nach Hause, um sich gemeinsam für ein nachhaltigeres und gerechteres Ernährungssystem einzusetzen.
Fortsetzung in der nächsten Bürger*innen-Episode…
Links
• Projet
• Kontakt: comite_alimentation@spp-vergers.ch
• Die Genfer Bürger*innenkomitees für Ernährung werden von den folgenden Akteuren getragen: après, Filière Alimentaire des Vergers FAV, FIAN International – Genève, Mouvement pour une Agriculture Paysanne et Citoyenne MAPC, Uniterre.
• Caisse alimentaire commune de Montpellier
• Collectif pour une Sécurité sociale de l’alimentation – France