Macht und Verantwortung
Was ist Macht? Supermacht, Dominanz, Machtmissbrauch? Wir wollen uns mit diesem Text dem Begriff „Macht“ annähern, um so die Beziehungen von Machtinhabern und Menschen, die dieser Macht ausgesetzt sind, näher zu beleuchten.
Für uns hat „Macht“ mit Verantwortung zu tun, denn wer Macht über andere ausübt, muss gleichzeitig am Wohlergehen der „beherrschten“ Menschen interessiert sein, allein schon, um weiter über sie herrschen zu können.
Und wenn man in dieser Logik weiterdenkt, kann abgeleitet werden, dass ethisch, gemeinwohlorientiert und verantwortungsvoll zu entscheiden und zu handeln, vertrauensfördernd und dadurch auch machterhaltend oder gar machtverstärkend wirkt. Dies gilt sowohl für den familiären Mikrokosmos als auch für die Makroebene eines Unternehmens, einem Staat oder einer Gruppe von Ländern.
Herrscher brauchen gesunde Untertanen
Wer Macht über andere ausübt, muss auch die damit verbundene Verantwortung übernehmen. Die Macht der Eltern über ihre Kinder zum Beispiel kommt mit der Verantwortung, sie grosszuziehen und zu befähigen, in der Gesellschaft zurechtzukommen. Auch auf der makroökonomischen Ebene sind Macht und Verantwortung eng verbunden, auch wenn die Verantwortung nicht überall so fürsorglich gelebt wird wie im idealen familiären Kontext.
Als Beispiel seien religiöse Gebote und Gesetze erwähnt, die die Gesundheit und Lebensbasis der Gemeinde, ihrer Sponsoren und Arbeitskräfte förderten. Um nur einige zu nennen:
- Verbot, Schweinefleisch zu essen (das Fleisch verdirbt schnell und ist ein guter Krankheitsüberträger).
- Gebot, Trennkost zu halten (zum Verdauen von Fleisch werden andere Enzyme benötigt als für Milchprodukte, ausserdem brauchen wir zum Verdauen von Fleisch sehr viel länger)
- Heiligsprechung der Kuh (Erhalt des Arbeitstieres und der Milchlieferanten)
- Mindestens einen fleischlosen Tag pro Woche (gesundheitlich und finanziell eine Entlastung)
Vom Feudalismus zum Liberalismus
Als Folge der Aufklärung übernahmen die modernen Verfassungsstaaten und Regierungsorganisationen die Macht von Kirche und Adel. Die Bevölkerung wurde „mündig“, die Bürgerrechte gaben -wenigstens den freien Männern- Macht, aber auch Pflichten, lies Verantwortung. Mit der Industrialisierung wuchs dann eine neue Macht heran, die Wirtschaftsmacht. Fabriken wurden schnell die grössten Arbeitgeber und Steuerzahler ihrer Region – ihre „Patrons“ waren gut vernetzt und mischten auch in der Gesellschaft und der Politik mit. Wie die Adeligen früher, kümmerten sie sich um das Wohl ihrer ArbeiterInnen – denn sie garantierten ihnen u.a. den wirtschaftlichen Erfolg. Es entstanden Arbeitersiedelungen mit Kleingärten, Ferienkolonien, die ersten Ausgleichskassen. Auch die Arbeitslosenversicherung begann als private Versicherung (eine Errungenschaft der Gewerkschaften). Später wurden die sozialen Leistungen verstaatlicht.
Heute noch arbeiten (in der Schweiz) doppelt so viele Menschen in KMUs als in Grossunternehmen. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung und in der Politik sind es die Konzerne und internationale Holdings, die die Gestaltungsmacht innehaben – geführt von Karrieremanagern, die sich auf Quartalsgewinne, Boni und Aktienkurse konzentrieren. Mitarbeitende sind jederzeit austauschbar, Kunden sind Mittel zum Zweck, und der Zweck ist der Profit. Die Eingangs erwähnte Verantwortung fürs Wohlergehen der Belegschaft und der KundInnen kratzt diese neuen Manager kaum.
So wie Eltern auf das Wohlergehen ihrer Kinder achten, müssten auch Konzerne ihre Verantwortung wahrnehmen und auf das Wohlergehen ihrer Stakeholders achten – und die sind, per Definition, nicht nur die AktionnärInnen, sondern auch MitarbeiterInnen, LieferantInnen und KundInnen. Vielleicht gehen diese Kadermenschen davon aus, dass sie von der sozialen Verantwortung entbunden seien, weil der Staat die soziale Sicherheit ihrer MitarbeiterInnen regelt und wir alle selbst unsere obligatorische Krankenkasse – ebenfalls profitorientierte Aktiengesellschaften mit Top-Lobby – zahlen.
Doch wie können wir generell Verantwortung über etwas übernehmen, ohne die Macht zu haben, etwas verändern zu können?
Wer trägt die Verantwortung für unsere Lebensmittel?
Sie fragen sich vielleicht, was dieser sehr vereinfachte politische Diskurs mit agrarinfo.ch zu tun hat? Nun: Wenn Macht moralische, ethische und soziale Verantwortung mit sich bringt, die ernst genommen werden muss, damit sie sich positiv auf das Wohlergehen der Gesellschaft auswirken kann, wünschen wir uns, dass die Lebensmittelindustrie ihre Verantwortung für das Wohlergehen all ihrer Stakeholders wahrnimmt. Wir fordern Gewinnoptimierung für alle statt -maximierung für wenige, gesunde Lebensmittel statt hemmungsloses Marketing für krankmachenden Junkfood.
Sicher kann man die oben erwähnten religiösen Regeln und den Kontext, in dem sie angewendet wurden, hinterfragen, und das Bild der alleinigen Machthaber und dominierten Untertanen ist heute – und in unseren Breitengraden – nicht mehr ganz so ausgeprägt. Die Wirtschaft aber hat eine grosse Lobby, Konzerne haben horrende Werbebudgets und einen starken Einfluss auf die Politik und freiwillig werden sie ihre finanziellen Profite nicht reduzieren.
Schuld sind die andern
Natürlich kennen wir alle Slogans wie „5x am Tag Gemüse oder Obst“, „saisonal, regional“, „Fleisch essen ist schlecht für die Umwelt“ „Kühe produzieren Methan“, „die industrielle Landwirtschaft schadet dem Klima“, und so weiter, aber wie können wir diese im Alltag berücksichtigen, wenn im „one-stop shop“ aka Grossverteiler (wo immerhin mehr als 95% der Einkäufe stattfinden, inklusiv Discounters) mit „Aktionen“ und „Sonderangeboten“ ganz andere Akzente gesetzt und Produkte gefördert werden, die unserer Gesundheit schaden?
Der französische Think-tank IDDRI sagt, dass die Figur des „Consomm-acteur“ (frei übersetzt die aktive Konsumentin) eine viel zu vereinfachte Sicht der Gesellschaft darstelle und erklärt, weshalb das vorherrschende Narrativ des verantwortungsbewussten Konsumenten oder der Konsumentin nicht funktioniert: Die subtile und verheerende Folge davon, dass Staaten und Firmen keine Verantwortung übernehmen, ist, dass die Verantwortung auf jede.n einzelne.n zurückfällt. Wir fühlen die grosse individuelle Verantwortung als Last und Schuld: schuldig, weil wir aus Zeit- oder Geldmangel hochverarbeitete Lebensmittel kaufen, schuldig dafür, dass in der Schokolade Kindersklavenarbeit steckt, schuldig weil das günstige Schweinskotelett schon als Ferkel wie Ware behandelt wurde, verantwortlich dafür, dass die ArbeiterInnen, die das billige Gemüse produzieren, ausgebeutet werden, in jeder Avocado eine halbe Badewanne Wasser steckt, welches die Menschen im Herkunftsland selber brauchen könnten und so weiter und so fort.
Doch solange sich im Ernährungsumfeld, lies im konkreten Angebot, nichts verändert, stehen die KonsumentInnen bei jedem individuellen Einkaufsentscheid erneut vor Kompromissen und Eigenschuld (die Consomm-Acteurs, nicht „der Markt“ – siehe Abbildung unten). Wenn wir aber den Diskurs über den Ernährungswandel ändern und die individuelle mit einer kollektiven Verantwortung ergänzen wollen, brauchen wir persönlichen und politischen Mut. Die aktuelle geopolitische Lage ist angespannt, und wer es wagt, zu argumentieren, dass der Staat seine Grenzen kontrollieren sollte, um Menge und Standard von Lebensmittelimporten zu kontrollieren, oder dass er Leitplanken setzen möge, um klimaschädliches Verhalten-förderndes Marketing zu verhindern (siehe Greenpeace-Bericht, „Werbebedingte Emissionen und Umweltbelastung in der Schweiz“), wird als Kommunist*in beschimpft.
Der Markt wird’s nicht allein richten
Welcher Markt ist gemeint im Mantra „der Markt wird es richten“, und was genau soll er wie richten? Wir befürchten, dass der Markt „es“ ohne staatliche Hilfe nicht richten wird, während die Konsumentinnen und Konsumenten zwar informiert, aber völlig machtlos dastehen: sie können nur kaufen, was angeboten wird. Es braucht ein stärkeres Engagement der öffentlichen Hand (etliche Ideen wurden an der Tagung zum Welternährungstag nach Bern geschickt, siehe „Unsere Anliegen für Bern“), klare gesetzliche Leitplanken, denn das Ziel der multinationalen Konzerne ist es, ihren Profit zu maximieren und weiter zu wachsen. Das schliesst gemeinhin das Wohl der Erdbewohner*innen und der Umwelt aus.
Die folgenden Vorschläge zur Einleitung kohärenter und ehrgeiziger Massnahmen im Bereich der Lebensmittelumwelt aus der Studie „Studie „Umwelt, Ungleichheit, Gesundheit: Welche Strategie für die französische Ernährungspolitik?““ erinnern an die Massnahmen in der Schweizer Klimastrategie 2050. Das kann kein Zufall sein. Packen wir‘s an!
Links
- Ernährungskonzepte der jüdischen, buddhistischen und muslimischen Religionen
- IDDRI – Der verantwortungsbewusste Verbraucher (FR)
- Respekt und Verantwortung – ein philosophischer Essay (FR)
- Buch Christophe Busset – „Vous êtes fous d’avaler ça“ (FR)
- Greenpeace –Detailhandel: für mehr nachhaltigem Konsum
- Historisches Lexikon Schweiz
- Geschichte der sozialen Sicherheit in der Schweiz